1. Krefeld

Die Moral des Müllbergs

Die Moral des Müllbergs

Dürrenmatts bekanntes Lehrstück „Der Besuch der alten Dame“ erfährt am Krefelder Stadttheater eine zeitgemäße Wiederaufnahme. Der Stadt Spiegel besuchte die Premiere.

Die verarmte Stadt Güllen ist ein Abfallhaufen. Hoch türmt sich der Sperrmüll auf der Bühne. Kaputte Typen, die einst Bürger waren, wanken vergrätzt durch den Plunder.

Aber schon am Ende des ersten Aktes strahlt sexy Leuchtreklame über die aufgeräumte Bühne. Die Bürger gehen wieder aufrecht und haben Kredite aufgenommen, um kräftig zu investieren.

Was ist geschehen? Die steinreiche „alte Dame“ ist eingetroffen. Wobei Eva Spott sie gar nicht „alt“ gibt. In der Krefelder Inszenierung ist sie eine Managerin in den besten Jahren, fesch und stylisch.

Für den versprochenen Geldregen verlangt die Besucherin eine Gegenleistung. Diese ist extrem unmoralisch. Doch die Bürger haben sich bereits verschuldet.

Beklemmender Höhepunkt des Spiels ist eine Bürgerversammlung, auf der die Einwohner zwischen Geld und Moral zu wählen haben. Das ist so realistisch dem gängigen Versammlungsablauf unserer Tage abgeschaut, dass dem Theaterpublikum der Atem stockt: Die scheinbare Sternstunde der Demokratie wird zur Perversion der Demokratie.

Diese Szene steht symptomatisch für die knisternde Spannung dieser Inszenierung. Regisseur Christoph Roos schafft mit überraschender Spielführung und wenigen Requisiten ein Maximum an Atmosphäre. Geschickt bindet er sogar das Publikum in den Spielkosmos ein, was die Betroffenheit steigert. Den Text von Friedrich Dürrenmatt hat er deutlich entschlackt. Dadurch gewinnt das Spiel noch an Dynamik und Verständlichkeit. Christoph Roos hat einen großartigen Theaterabend geschaffen: düster, emotional und mitreißend. Keine Minute ist langweilig.

Dabei steht ihm ein hervorragendes Ensemble zur Seite. Bruno Winzens Abgeklärtheit, als sich seine Figur Ill mit dem gewaltsamen Tod abgefunden hat, wirkt geradezu beängstigend. Die Eloquenz von Bernhard Bauer als moderierendem Bürgermeister ist verstörend.

Dürrenmatts Welterfolg von 1956 ist äußerlich eine lehrbuchhafte Groteske, innerlich die erschreckende Realität. Der Krefelder Theaterabend arbeitet beide Aspekte punktgenau heraus. Themen sind die Nachwirkung verdrängter Schuld, Verführbarkeit und Selbsterkenntnis. Das Ende ist so furchtbar, dass selbst die Schauspieler beim kräftigen Schlussapplaus noch ergriffen wirken.

(StadtSpiegel)