1. Moers Niederrhein

Ingo Schulze im Interview: „Eindeutigkeit gibt’s bestenfalls im Märchen“

Ingo Schulze im Interview : „Eindeutigkeit gibt’s bestenfalls im Märchen“

Am Samstag, 25. März, um 19.30 Uhr im Studio des Schlosstheaters Moers liest Ingo Schulze aus seinem Roman „Die rechtschaffenen Mörder“, am Abend vorher wird die STM-Inszenierung von „Über Menschen“ wiederaufgenommen. Thomas Warnecke hat vorab mit Ingo Schulze gesprochen.

In Juli Zehs „Über Menschen“ zieht eine Werbetexterin aufs Land und freundet sich mit ihrem neuen Nachbarn an, der sich als „Gote, Dorfnazi“ vorstellt. Darf man mit Nazis reden?

So steht ja die Frage selten. Wer ist ein Nazi? Wer sagt, dass die oder der Nazi ist. Im Alltag hat man immer ein Gegenüber in einer bestimmten Situation. Und natürlich spreche ich erst mal mit jeder und jedem, so wie ich das andersherum auch erwarte. Es gibt ja kein Ich ohne ein Du, kein Du ohne ein Ich. Identität ist ja nichts Statisches, je nach Beziehung verändere ich mich auch. Mittlerweile halte ich es schon für einen Erfolg, wenn Menschen im selben Raum stehen, sich in die Augen schauen, womöglich die Namen voneinander wissen und versuchen, miteinander zu reden.

„Die rechtschaffenen Mörder“ geht ja ganz anders vor als „Über Menschen“. Ist die doppelte Herausgeberfiktion auch eine Art Distanzierung?

Die Struktur des dreiteiligen Romans ist eigentlich einfach. Man liest im ersten Teil über einen Dresdner Antiquar Norbert Paulini, der 1977 sein Geschäft eröffnet, am Ende sind wir im Jahr 2013 und er wird rechtsradikaler Umtriebe verdächtigt. Man wundert sich, warum die Erzählung mitten im Satz abbricht. In Teil 2 bekommt man mit, dass Teil 1 offenbar das Manuskript ist, das jener Schultze (im Gegensatz zu mir mit t im Namen) geschrieben hat, der auf die Hauptfigur im realen Leben eifersüchtig ist, ihn aber auch dankbar bewundert, die gemeinsame Vergangenheit glorifiziert und vieles mehr. Erst mit Teil 3 bekommt man eine Perspektive auf das Geschehen, die nicht von Schultze stammt, sondern von dessen Lektorin. Nun sind Paulini und die von beiden geliebte Lisa tot. Schultze könnte einer der Hauptverdächtigen sein … Sie können über den Inhalt nicht sprechen, ohne über die Struktur zu sprechen. Es geht um eine möglichst realistische Darstellung der Wirklichkeit. Der Roman könnte vielleicht vorführen, wie fragwürdig verzerrt das eigene Weltbild wird, wenn man nur einem zuhört.

Wie viel Erfahrung, wie viel Wirklichkeit steckt in Norbert Paulini? Und möglicherweise: wie viel Ingo Schulze?

Vorbilder für die Figuren gibt es nicht. Dass ich meinen Namen leicht abgewandelt der zweifelhaftesten Figur des Romans leihe, soll nicht auf persönliche Ähnlichkeiten verweisen, eher auf ähnliche Rahmenbedingungen. Als Autor bin ich privilegiert, weil ich eine gewisse Deutungshoheit besitze und Zugang zu einer gewissen Öffentlichkeit habe, wie dieses Interview beweist. In dem Buch geht es auch darum, wer darf die Geschichten und die Geschichte erzählen? Hier deutet jemand anklagend auf eine Figur – und plötzlich wendet sich der Verdacht gegen ihn selbst.

Ist es nicht vielleicht wirklich so, dass man als Büchermensch, als Leser wie Paulini „für die Welt verloren“ ist?

Oh, das kann ich nicht schlüssig beantworten. Ein- und dasselbe Buch wird ja immer anders gelesen, weil wir verschieden sind, weil wir verschiedene Erfahrungen gemacht haben, verschiedene Vorlieben und Interessen haben. Wer in ein Buch vertieft ist, geht natürlich seiner Umgebung erstmal verloren, er hilft nicht beim Kochen oder Tischdecken, hört nicht, wenn er etwas gefragt wird … Andererseits kehrt er vielleicht mit einer Geschichte zurück, die ihn berührt hat und die er anderen erzählen will, die ihn vielleicht verstört hat und die jetzt die ganze Tischrunde beschäftigt. Insofern wäre es ein Gewinn für alle. Aber ich sehe natürlich ein, dass Kochen und Tischdecken gerecht verteilt werden sollten.

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War die Lust am Ressentiment, am politisch Inkorrekten usw. für Sie ein Antrieb?

Ein Ressentiment, das von einer Figur geäußert wird, ist ja was Anderes, als wenn ich das im Interview sage. Es charakterisiert ja erstmal die Figur und durch die Reaktionen der anderen Figuren dann auch diese. Die Frage ist natürlich, was wird als Ressentiment verstanden. Paulini macht - in der Schilderung von Schultze, muss ich hinzufügen - Erfahrungen, die ihn verbittern lassen. Ich kann das nachvollziehen, andere vielleicht nicht, wie man es bewertet, wäre dann wieder etwas Anderes. Es ist keine neue Erscheinung, dass es eine große Sehnsucht nach Eindeutigkeit gibt, aber Eindeutigkeit gibt’s bestenfalls im Märchen. Wir sind alle widersprüchlich, unser europäischer Alltag ist ein einziger Widerspruch. Ressentiments entspringen oft dem Wunsch nach Eindeutigkeit, dann muss man sich nicht mehr selbst in Frage stellen.

Sie werden ja als Schriftsteller, der in Dresden geboren ist, immer dann gefragt, wenn’s um bestimmte Themen geht: „der“ Osten, „der Wenderoman“ oder jetzt eben „Rechts“. Stört Sie das oder ist das Teil Ihrer Motivation, an der Zeitgeschichte entlangzuschreiben? Immerhin haben Sie ja auch eine journalistische Vergangenheit ...

Gerade in den letzten Monaten fühle ich mich sehr oft an meine Zeit als Journalist erinnert, weil ich ständig irgendwohin fahre und dort jemanden interviewe, um dann darüber zu schreiben. Und ich blicke auf vieles mit der Erfahrung von jemandem, der im Osten sozialisiert worden ist. Ich habe keinen Grund, mein Herkommen zu verleugnen, das Problem ist nur, dass jemand, der 1962 in Mülheim geboren worden ist statt in Dresden, als deutscher Schriftsteller vorgestellt wird, während ich immer der Ostdeutsche bin. Niemand käme auf die Idee, einen Schriftsteller aus Frankfurt am Main zu fragen, was denn mit den Westdeutschen los sei, weil es ja die Morde von Hanau gegeben hat. Ich übertreibe jetzt etwas, aber auch nach über dreißig Jahren figuriert der Osten im westlichen Unterbewusstsein noch immer als das Andere.

Jetzt sind Sie hier und ja gerade häufiger in der Gegend unterwegs. Welchen Eindruck haben Sie vom Ruhrgebiet?

Ich sitze hier viel weniger am Schreibtisch als in Berlin. Es klingt banal, aber je mehr ich zu erfahren glaube, desto mehr wird auch das, wovon ich keinen blassen Schimmer habe. Ein Aspekt, der mich sehr fasziniert, ist die ständige Umwandlung einer Region, die unaufhörlichen Veränderungen, die es anderswo auch gibt, aber meiner Ansicht nach nicht in diesem, die ganze Landschaft und ihre Bevölkerung verändernden Maße. Die Analogie zum Osten Deutschlands drängt sich dabei auf, aber das wäre ein anders großes Thema.

Wer bzw. was wäre Norbert Paulini, wenn Sie den Roman hier angesiedelt hätten?

Das ist eine Frage, die Sie natürlich viel besser beantworten könnten als ich.