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Der Hafenstadtteil Ruhrort könnte Jubiläum feiern: 650 Jahre Spitze

Der Hafenstadtteil Ruhrort könnte Jubiläum feiern : 650 Jahre Spitze

Heute vor 650 Jahren, am 28. April 1371, erteilt Kaiser Karl IV. in Prag dem Grafen von Moers die Genehmigung, an beliebiger Stelle in seinem Gebiet einen Rheinzoll zu errichten. Johann von Moers entscheidet sich für den Homberger Werth – die Geburtsstunde Ruhrorts.

Ruhrort ist ein besonderer Ort. Ort steht für Spitze und meint die von Rhein und Ruhr gebildete Form der ehemaligen Insel. Durch ihren Hafen an der prominenten Stelle wurde die einst selbstständige Stadt zum Scharnier zwischen dem Ruhrgebiet und den großen Seehäfen. Bis heute finden Wohnen und Arbeiten hier enger beieinander statt als anderswo, gleichzeitig wird der Strukturwandel hier besonders sichtbar: Kohlen- und Erzhaufen weichen Containern, Industrie weicht Dienstleistung. Schon früh zieht Ruhrort Reporter und Fotografen an, später wird der Duisburger Hafenstadtteil zum beliebten Film- und Fernsehdrehort, MS Franziska, Schimanski, der Hafendetektiv … Als der später weltberühmte Schriftsteller Joseph Roth in den 1920er Jahren hierherkommt, erscheinen ihm die Schiffer in den Ruhrorter Hafenkneipen als die einzigen glücklichen Ruhrgebietsmenschen: weil sie jederzeit wieder wegkönnen …

Seit 1975 gehört Ruhrort mit Homberg und Baerl zum einzigen rheinübergreifenden Stadtbezirk Duisburgs. Die Eingemeindungswunden dürften allerdings schon länger verheilt sein: Weil die Häfen Ruhrorts und Duisburgs immer weiter aufeinander zu wuchsen, wurde die kleinere Stadt mit dem größeren Hafen der größeren Stadt mit dem kleineren Hafen schon 1905 einverleibt.

Besitzerwechsel sind die Ruhrorter von Anfang an gewohnt. Schon 1372 erwarb Graf Engelbrecht von der Mark für 50 Gulden Erbzins das Zollrecht und baute eine Burg, das Kasteel. 1393 geht „Rureort“ wieder an Moers, 1417 an Kleve. Weder das Kasteel mit seinen vier Türmen und Wassergraben noch die 1437 errichtete Stadtmauer um die „Freiheit Ruhrort“ hielten fremde Herren ab. Als der päpstliche Nuntius Fabio Chigi (der spätere Papst Alexander VII.) 1644 auf dem Weg zu den Friedensverhandlungen nach Münster an „Rurord, qua Rhenus gurgite vasto / Rurae sorbet aquas“ („Ruhrort, wo der Rhein in mächtigem Strudel / Gierig verschlingt die Wasser der Ruhr“) vorbeischippert, bleibt er lieber unter Deck: Vom Herzog von Berg an den Kölner Erzbischof verpfändet, haben jetzt die Hessen Ruhrort erobert, aber drüben bei Orsoy warten schon die Holländer … Noch mitten im Dreißigjährigen Krieg befahl der Kurfürst von Brandenburg den Abriss des Kasteels; Reste blieben aber noch bis ins 18. Jahrhundert stehen; ein Turm diente als Kohlenmagazin.

 „Roerort“ auf dem Stich von Matthäus Merian dem Älteren (der allerdings bei Wenzel Hollar abgekupfert hat ...)
„Roerort“ auf dem Stich von Matthäus Merian dem Älteren (der allerdings bei Wenzel Hollar abgekupfert hat ...) Foto: Archiv
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Da machte sich die Lage an der Mündung der Ruhr in den Rhein endlich bezahlt. 1716 war der Hafen gegründet worden, 1781 ist die Ruhr bis Holzwickede schiffbar; auf dem Damm stapeln sich Kohle und Kolonialwaren, rund um Ruhrort werden immer neue Hafenbecken ausgehoben. In der Altstadt wird’s zu eng; der preußische Zollbeseher Jan Willem Noot baut sein Packhaus 1756 außerhalb der Stadtmauern. Hier wird 1779 Franz Haniel geboren, der 1834 als Erster die Mergelschicht durchstößt und damit den Steinkohlebergbau begründet und mit Zeche Zollverein 1847 dessen bis heute prominentestes Denkmal. Als James Watt jr. 1817 die überhaupt erst zweite Dampfschifffahrt auf dem Rhein unternimmt und dabei einen Maschinenschaden erleidet, bietet Franz Haniel Hilfe an – und verschafft sich das nötige Wissen zur Gründung einer eigenen Werft. 1830 läuft in Ruhrort der erste Rheindampfer, die „Stadt Mainz“, vom Stapel. Und 2010 fängt die seit Jahrzehnten leerstehende Kesselschmiede, wo das Schiff gebaut wurde, wie durch Geisterhand Feuer; der damalige Besitzer Duisport reißt die Ruine ein Jahr später ab. Schon zehn Jahre früher waren auch die wahrzeichenhaften Erzkräne eines Morgens einfach weg. Das Geschichtsbewusstsein in Ruhrort ist, nun ja, unterschiedlich ausgeprägt.

 Die Ruhrorter Altstadt um 1930
Die Ruhrorter Altstadt um 1930 Foto: Filmforum/Archiv

Wäre Brandstiftung gegen Leerstand das Mittel der Wahl, würde Ruhrort wohl aussehen wie ein Grillplatz. Die Hafenstadt hatte Ende des 19. Jahrhunderts nachweislich die höchste Kneipendichte im Rheinland, und ebenso gab es weit mehr Geschäfte, als für die Einwohner nötig gewesen wären, beispielsweise bis Ende der 1960er ein Karstadt-Kaufhaus am Neumarkt. Der Stadtteil musste die Schiffe mitversorgen, und die hatten früher mehr Besatzung dabei und lagen auch länger im Hafen.

Diese große Zeit speist den Ruhrort-Mythos bis heute: als bei Tante Olga leicht bekleidete Animierdamen den Gästen das Geld aus der Tasche zogen und Livebands mit oft mehrwöchigen Engagements Beat und Rock’n’Roll populär machten (weshalb sich Jazztrommler Udo Lindenberg nach einem Gespräch mit „Motorbiene“-Sänger Benny Quick bei Tante Olga für eine Rockerlaufbahn entschied). An der Prostitution in der Steegstraße gibt’s wohl kaum was zu romantisieren, und wie weit es mit dem „St. Pauli des Ruhrgebiets“ jemals her war (Lisa Simpson: „Alles, was das Irgendwas von Irgendwas ist, ist in Wirklichkeit das Nichts von gar nichts“), bleibt fraglich, immerhin testete der Hamburger Star-Club seine Livebands früher in der „Goldenen Diele“. Die Altstadt wäre heute vermutlich sowas wie der Bremer Schnoor, aber der Abriss geschah auch mit guter Absicht: Auf knapp drei Hektar wohnten 1.216 Menschen, von den 128 Häusern hatten nur 56 ein eigenes Klo mit Wasserspülung in jeder Wohnung, 54 nur eins pro Haus und elf gar keins … Der Tönnekesdrieter, der seine Notdurft auf einem Fass verrichtet und es dann entweder in den Hafen schüttet oder von Meidericher Wackelköppen wegkutschieren lässt, ziert heute Karnevalsorden.

 Die Kohleninsel im Ruhrorter Hafen wird gerade zum Containerterminal umgestaltet - Ruhrort (und der Logport Rheinhausen) liegt am Ende der „Neuen Seidenstraße“.
Die Kohleninsel im Ruhrorter Hafen wird gerade zum Containerterminal umgestaltet - Ruhrort (und der Logport Rheinhausen) liegt am Ende der „Neuen Seidenstraße“. Foto: tw

Von einst über 150 Kneipen in Ruhrort sind keine zehn geblieben; nur die Imbissbuden, der gutbürgerliche „Kaiserhafen“ und ab und an mal der Hübi bieten derzeit To-go-Verkauf an; vor Café Kurz stehen Schlangen für Torte und auch Eis, doch manche alteingesessenen Ruhrorter lassen sich lieber darüber aus, dass bei „Monego“ vor 30 Jahren die Eisbecher viel schöner waren …

Wie es gehen könnte, war 2010 zu erleben, als im Kulturhauptstadtjahr mit den Fördergeldern von Haniel, die nicht nach Essen abflossen, Ruhrort als „Hafen der Kulturhauptstadt“ die Duisburger Local-Heroes-Woche bestritt. Mit Kunst, Theater, Show und Livemusik wurde der Leerstand für eine Weile weggespielt; doch beispielsweise die von Klaus und Tatjana Grospietsch in ihrer Freizeit betriebene „RuhrArt Galerie“ in bester Lage am Leinpfad musste aufgeben, weil nicht einmal das Geld für die Miete reinkam. Ruhrkunstort, Lokal Harmonie und das vom Kreativquartier betriebene „Plus am Neumarkt“ halten die Fahne hoch und lotsen weiter Fördergelder in den Stadtteil, können zurzeit aber auch nur streamen oder Schaufenster bespielen. Hausbesitzer, die im Stadtteil wohnen, haben ihre Ladenlokale längst zu Wohnraum umgewandelt. Bleibt das Problem, dass es für Investoren anscheinend lohnenswerter ist, Immobilien leer stehen zu lassen als etwa gegen Energiekosten zu vermieten – von Sanierung ganz zu schweigen.

 Ruhrort ist - mit den momentanen Einschränkungen - nach wie vor ein beliebtes Ausflugsziel, etwa bei Hochwasser wie hier im Januar, als die Schiffe im Hafenmund mit den Spaziergängern am Leinpfad auf Augenhöhe lagen.
Ruhrort ist - mit den momentanen Einschränkungen - nach wie vor ein beliebtes Ausflugsziel, etwa bei Hochwasser wie hier im Januar, als die Schiffe im Hafenmund mit den Spaziergängern am Leinpfad auf Augenhöhe lagen. Foto: Thomas Warnecke

Zu feiern gäbe es immer noch genug, nur ist das gerade aus bekannten Gründen nicht möglich. Das Ruhrorter Hafenfest, nach einer Umfrage von Radio Duisburg das beliebteste Volksfest Duisburgs, ist für 2021 zwar noch nicht abgesagt, erscheint aber im Moment nur schwer vorstellbar.

Doch es besteht Hoffnung für Ruhrort. Letzten Sonntag waren die ersten Schwalben zu sehen. Sie werden ihre Nester hoch überm Leinpfad wieder instand setzen und auch diesen Sommer den Hafenmund bespielen.